Beihinger Straße 9
Ida Möhler wurde am 17. Oktober 1887 in Dörzbach im Oberamt Künzelsau geboren. Sie war katholisch und hatte die württembergische Staatsangehörigkeit. Ihre Eltern waren der Buchbindemeister Fridolin Rettich und seine Frau Anne Marie, geb. Lock aus Sulzbach. Am 29. April 1912 heiratete sie in Dörzbach Johann Möhler, es war dessen zweite Ehe. Johann Möhler war Postassistent, er wurde 1877 geboren und starb 1927 in Neckarsulm. Zwei Jahre nach seinem Tod zog Ida Möhler nach Ludwigsburg. Das Einwohnerregister der Stadt Ludwigsburg bestätigt den Zuzug von Ida Möhler aus Mockmühl am 9. April 1929 als Eigentümerin des Hauses in die Beihingerstr. 29. (Allerdings wurden später bei der Umnummerierung von Bottwartalstr. und Beihingerstr. die Hausnummern verändert, aus 29 wurde die 9. Dieses Haus wird heute vom Urenkel von Ida Möhler bewohnt.)
Der Ehe mit Johann entstammten vier Kinder, die alle in Mockmühl zur Welt kamen. Die Söhne Alfred, geboren 1914, und Johannes, geboren 1920, starben im Krieg in Russland, beide 1942. Sohn Eugen, geb. 1913, heiratete 1943 in Berlin- Zehlendorf Barbara Kern. Der Sohn Hubert Paul, geboren 1917, heiratete 1944 in Düsseldorf Margarete Andres.
Die Einwohnerbücher von Ludwigsburg bestätigen, dass Ida Möhler, Postassistentenwitwe, in den Jahren 1934, 1936, 1938 in der Beihingerstraße wohnte, immer zusammen mit Hedwig Mayer, ihrer Schwester. Hedwig Mayer, geb. Rettich, war eine Hauptlehrerswitwe, sie war 1890 in Dörzbach geboren, hatte 1913 Karl Mayer geheiratet, der 1918 in Frankreich gefallen war. Sie zog 1929 nach Ludwigsburg. Als Ida in die Anstalt Weinsberg eingewiesen wurde, war ihre Schwester die zahlungspflichtige Person.
Ab Herbst 1929 wohnten also die Schwestern, beide Witwen, zusammen im Haus Beihingerstr. 29, das laut Einwohnerkarte der Ida Möhler gehört. Über das weitere Leben von Ida erfahren wir etwas aus den Krankenakten der Heilanstalt Weinsberg, denn dort wurde Ida Möhler am 26. August 1931 zu ersten mal eingeliefert. Sechs Jahre später, am 25.2. 1937, wird sie nach Hause entlassen, aber schon einige Tage später, am 8. März 1937, ist sie wieder in Weinsberg.
Als nächstes halten die Akten fest: „Ausgetreten am 8. Mai 1940 – Wohin? In eine andere Anstalt.“ Die Gedenkstätte Grafeneck bestätigt, dass dieser Tag auch der Todestag von Ida Möhler war – sie wurde an diesem Datum in Grafeneck ermordet. Das Standesamt in Grafeneck hat das Todesdatum und die Ursache, wie es oft geschah, gefälscht und gibt den 23. Mai an. Als Todesursache wird „Akute Hirnschwellung“ angegeben.
Neun Tage vor dem ersten Eintritt in Weinsberg, am 26.8.1931 erstellte ein Arzt am Ludwigsburger Krankenhaus, Dr. Joel, eine Anamnese, die den Krankenakten beigefügt ist. Nachdem festgestellt ist, dass es keine Geisteskrankheiten in der Familie gegeben hat, schildert er die Entstehung und Entwicklung der Geistesstörung:
„… seit zwei Jahren nicht mehr ganz richtig. Vor zwei Jahren wegen Schwermut Suicidversuch. Durchschneiden der Pulsader. Deswegen im Krankenhaus Ludwigsburg. Seitdem meist schwermütig, schimpft oft, streitsüchtig, Verfolgung- und Beziehungswahn. (…) Beschreibung der derzeitigen Geisteszustandes: glaubt vom Teufel besessen zu sein. Sie hat Gehörs- und Gesichtshalluzinationen. Glaubt, ihr Bett sei elektrisch. Sie hält sich selbst für gesund, möchte aber in die Irrenanstalt, damit man dort feststellt, dass sie nicht verrückt sei. Sie liegt stundenlang lachenden Gesichts ruhig im Bett und schimpft dabei beständig mit einer Gestalt, die sie anscheinend an der Decke sieht. (…) Suicidgefahr.“
Die Eintragungen in der Krankenakte erstrecken sich über neun Jahre und umfassen 15 Seiten, davon sieben Seiten für das Jahr 1931. Im weiteren Verlauf reichen meist zwei Seiten für zwei Jahre.
Die psychischen Probleme haben wohl schon bestanden, als Ida Möhler nach Ludwigsburg zog. Der erste Eintrag der Krankenakte hält fest: „Der Mann sei Bahnbeamter gewesen, habe mit der Familie in Möckmühl gewohnt. Nach seinem Tod sei Pat. (Patientin) mit ihrer Schwester in Hoheneck zusammengezogen, dort habe sich gleich ein Komplott gegen sie gebildet, namentlich eine Nachbarsfrau sei ihr feindlich, aber die ganze Welt sei gegen sie.“
Dann wird beschrieben, wer ihr Böses will, dass sie Schriften mit Hinweisen an der Zimmerwand liest und dass ihr Mann wieder auferstanden sei. Beobachtungen dieser Art wiederholen sich. Der Alltag für Ida Möhler sieht wohl so aus, wie in diesem Eintrag festgehalten: „Halluziniert dauernd lebhaft, ist sonst aber gut zu haben, wenn sie auch ab und zu laut schimpft. Täglich beim Mattenflechten.“ Ihr Bruder und ihre Schwester Hedwig Mayer versuchen 1937, sie wieder nach Hause zu holen, aber nach zwölf Tagen ist sie wieder in Weinsberg.
Zwei Monate vor ihrer Verlegung in die Tötungsanstalt heißt es in einem der letzten Einträge: „Seit Monaten fleissig bei der Arbeit in der Bügelstube. Führt oft laute Selbstgespräche. Isst unregelmäßig.“
Christian Rehmenklau