Wilhelm Breier

Der verlassene Bruder Breier

Auf der Karlshöhe 3

das zweite von sieben Kindern einer evangelischen Familie aus Geislingen an der Steige. Der Vater war Kontorist in der Metallwarenfabrik – und Wilhelm hoffte, das Richtige zu tun, wenn auch er in der vertrauten WMF anfängt: Er lernte Maschinenschlosser und hoffte auf gute Arbeit bei einer Firma in Ludwigsburg – doch die ging 1922 pleite, Arbeitslosigkeit und Schlosserarbeit wechselten sich eine Zeitlang ab.

Ein preiswertes Quartier fand Wilhelm Breier auf der Karlshöhe in Ludwigsburg. Der Christliche Verein Junger Männer (CVJM) gab ihm neue Hoffnung – mit 24 Jahren schrieb er an den Direktor der Karlshöhe: „Meinem langjährigen Wunsche entsprechend für die viele Liebe und gütige Führung an Hand unseres Herrn und Heilands wäre ich nach reiflicher Überlegung bereit, meine folgenden Jahre ganz in den Dienst der inneren Mission zu stellen.“ Und sein Vertrauen wurde belohnt: Im April 1927 begann er seine Ausbildung als Diakon, arbeitete als „Aufseher“ und „Krankenpfleger“ in verschiedenen Einrichtungen und wurde 1932 zum Diakon eingesegnet.

Voller Hoffnung freute Wilhelm Breier sich auf die nächste große Veränderung in seinem Leben: Er verlobte sich mit der Pfarrhaushaltshilfe Ida Keller. Doch die Jahre waren schon überschattet: Es gab Konflikte in seinen befristeten Arbeitsstellen (beliebt bei den „schwerbeschädigten Gästen“, gegenüber einer Krankenschwester und gegenüber Vorgesetzten „ein eigensinniger Dickkopf“, der sich Weisungen widersetzte und immer wirrer wirkende Briefe an den Direktor schrieb). Einen feste Anstelllung gab es nicht für Wilhelm Breier, und so sah er sich auch nicht in der Lage zu heiraten.

Im Dezember 1935 erlitt der 33-jährige einen Nervenzusammenbruch, bekam Depression und Psychose diagnostiziert und geriet in das immer stärker von Nazi-Ideologie durchzogene deutsche Psychiatrie-System. Im März 1936 bat das Amtsgericht Geislingen („Streng geheim!“) den Karlshöhe-Direktor Fritz Mößner „in der Erbgesundheitssache des Wilhelm Breier […] um Mitteilung der dortigen Unterlagen bzw. Beobachtungen. Der Antrag auf Unfruchtbarmachung beruht auf der Diagnose Schizophrenie.“ Der Karlshöhe-Direktor antwortete, er habe „große Sorge, ob nicht der geistige Zustand dauernd geschädigt bleiben wird. Ich habe ihn ermahnt, sich dem Gesetz zu beugen unter Hinweis darauf, dass er es doch etwaigen Nachkommen ersparen möge, dass sie dieselben Krankheitszustände durchmachen müssen wie er selbst.“

Wilhelm Breier, der verzweifelt gegen die drohende Sterilisierung anschrieb, kam in die Tübinger Psychiatrie. Vom Juni 1936 an waren all seine Hoffnungen auf ein Leben in Freiheit und Würde enttäuscht. Fünf Jahre verschwand der junge Diakon in der „Heilanstalt Weißenau“ in der Nähe von Ravensburg. Im Frühjahr 1941 dann zeigte sich, dass er allen Schutz längst verloren hatte: Als die Nazis sich daran machten, Menschen massenweise zu ermorden, die sie für seelisch oder geistig krank hielten, wurde Wilhelm Breier in die „Heilanstalt Hadamar“ bei Limburg in Hessen transportiert. In dieser Ermordungsanstalt wurde der einst so hoffnungsvolle Mann am 21. April 1941 getötet, kurz nach seinem 39. Geburtstag.

Am 10. Mai 1941 erhielt Direktor Mößner die Nachricht von Wilhelm Breiers Tod durch die Versorgungskasse Berlin. Er notierte in Anführungszeichen, was als Todesursache angegeben worden war: „Septische Angina“. In Verwaltungs- und Brüderrats-Protokollen wurde der Tod des Diakons und „Bruders“ nicht einmal erwähnt.

Wo ein Stolperstein an einen Menschen erinnert, orientiert sich im Normalfall an seinem letzten „freiwillig gewählten Wohnort“. Wilhelm Breiers Meldeadresse änderte sich immer wieder durch die Arbeitsplätze, die er vorübergehend in diakonischen Einrichtungen hatte. Die längste Zeit seines Berufslebens war er auf der Karlshöhe gemeldet; zuletzt zog er von dort auf den Rabenhof bei Ellwangen. In der Abwägung, wo ein Stolperstein am passendsten aufgehoben wäre, gab den Ausschlag, dass Wilhelm Breier sich als Diakon wie beschrieben in den Dienst der „inneren Mission“ gestellt hatte, und dass das Brüderhaus der Karlshöhe das Zentrum dieser Aufgabe war. Darum wurde der Stolperstein „Auf der Karlshöhe 3“ verlegt – zwischen dem Haupthaus der Verwaltung und dem älteren der Hochschulgebäude, mit Blick direkt aufs Brüderhaus.

Bei der Verlegung des Stolpersteins beklagte Dekan Frieder Grau, der heutige Direktor, die wortwörtliche „Unbeholfenheit“ der früheren Diakone im Umgang mit ihrem Bruder Willhelm Breier – was auch immer unterstützend für ihn unternommen worden war, es reichte nicht im Geringsten, ihn zu schützen. Die Klugheit, mit der Direktor Mößner die Bewohner des Männerheims vor der Verfolgung des Nazi-Terrors schützte und lebend durch diese Zeit brachte, hatte für Wilhelm Breier keine Hilfe gebracht.

Jochen Faber