Florina Ottenheimer

Der Leidensweg einer Ludwigsburgerin

Bei der Katholischen Kirche 2

 

«Liebe Tante Flora!

Wir wundern uns sehr, schon so lange nichts von Dir zu hören, und auch Neuwirths (anmerkung: Eltern der Schwiegertochter), bei denen wir angerufen, haben in letzter Zeit nichts von Dir erhalten.

Hoffentlich bist Du immer in guter Gesundheit. Vor circa vier Wochen haben wir ein Päckchen mit Zuckerle und Obst gesandt und hat Mutter ein Briefle dazu geschrieben, aber bis heute haben wir keine Empfangsanzeige von Dir erhalten, was uns sehr wundert, da wir das von Dir nicht gewohnt sind ….»

Diese Zeilen schrieb Jakob Greilsamer aus Ludwigsburg am 23. August 1940, gerichtet an seine Tante Florina Ottenheimer in die Heilanstalt Zwiefalten. Sie erreichten sie nicht mehr.

Als letzter Eintrag im Aufnahmebuch der Heilanstalt Zwiefalten steht in der Spalte «Tag des Austritts: 13. 8. 1940 verlegt.» An diesem Tag geht ein Transport mit insgesamt fünfundsiebzig Frauen nach Grafeneck. Auf der Verlegungsliste steht an fünfzehnter Stelle ihr Name, ihr Geburtsdatum und die Nummer aus der Verpflegungsgeldliste. Die Frauen wurden wohl unmittelbar nach ihrer Ankunft am 13. August 1940 durch giftiges Gas ermordet.

Florina Ottenheimer war 64 Jahre alt, als sie im Zuge der «Aktion T4» ermordet wurde. Unter dieser harmlos scheinenden Bezeichnung wurde das erste groß angelegte Mord-Programm der deutschen Nazis bekannt: Über 100.000 Psychiatrie-Patient/innen und Menschen mit Behinderung wurden gezielt und mit viel krimineller Energie ermordet. Das leitende Büro für diese Aktion war in Berlin im Haus Tiergartenstraße 4 – daher die Abkürzung «T4».

Florina Ottenheimer, geborene Bloch, die Tochter eines jüdischen Handelsmannes und Landwirts, wurde als neuntes von vierzehn Geschwistern am 20. Juni 1876 im Hegaudorf Randegg geboren.

Die Randegger Juden besaßen schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts eine eigene Synagoge und eine kleine jüdische Schule. Florina wurde mit ihren Geschwistern streng orthodox erzogen. Sie besuchte die Simultanschule für christliche und jüdische Kinder.

Mehrere ihrer Randegger Verwandten waren nach Karlsruhe verzogen. Vermutlich konnte sie bei einer der Familien wohnen und besuchte deshalb zur weiteren Ausbildung die höhere Mädchenschule in Karlsruhe.

Am 10. April 1899 heiratete Florina in Ludwigsburg den jüdischen Handelsmann und Viehhändler Gustav Ottenheimer. Im Jahr darauf, am 24. Oktober 1900, wurde ihr Sohn Julius geboren. Julius blieb das einzige Kind des Ehepaares. Die Familie wohnte im zweiten Stock des Hauses Bei der Katholischen Kirche 2.

Aufopferungsvoll für andere

Bei der aufopfernden Pflege ihrer schwerkranken Schwiegermutter Nanette Ottenheimer überanstrengte sich Florina körperlich und psychisch. Nach dem Tod der Schwiegermutter – sie starb im Februar 1914 – machte Florina sich schwere Vorwürfe, sie nicht ausreichend versorgt zu haben und für ihren Tod verantwortlich zu sein.

Zur Behandlung ihrer depressiven Zustände wurde Florina im September 1914 in die Heilanstalt Kennenburg bei Esslingen eingewiesen. Der Aufenthalt dort dauerte weit über ein Jahr. Am Neujahrstag, dem 1. Januar 1916, wurde sie entlassen. Aus den Krankenunterlagen geht hervor, dass Florina seit ihrer Jugend unter Schwerhörigkeit litt, über Lärm und Stimmen klagte und deshalb nervös wirkte. Florina war in Kennenburg sehr unglücklich und wünschte sich nichts sehnlicher, als zu ihrer Familie zurückkehren zu dürfen.

Florinas Ehemann Gustav Ottenheimer verstarb am 12. September 1927 im Alter von 59 Jahren. Er wurde auf dem neuen israelitischen Friedhof in Ludwigsburg bestattet.

Die gefährliche «Irrendatei»

Angeblich wegen auffälligen Verhaltens stellte die Kreispflege Ludwigsburg am 12. September 1938 einen Antrag auf Unterbringung Florinas in eine Heilanstalt, die Aufnahme sei «dringend notwendig.» Ein Jahr später, am 20. September 1939, wurde Florina in die Heilanstalt Zwiefalten eingewiesen, die «Sammelstelle» für jüdische Patienten war.

Es ist erwiesen, dass in den 1930er-Jahren eine sogenannte «Irrendatei» erstellt wurde. Die Daten aller Patienten, die seit 1900 in Heilanstalten untergebracht waren, wurden gesammelt. Daraus wurden Listen von ungefähr 100.000 Personen erstellt, die im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie «abgearbeitet» wurden.

So war auch Florinas Aufenthalt in der Heilanstalt Kennenburg samt Krankenunterlagen «aktenkundig». Die Kosten für die Unterbringung und die Pflege Florinas in Zwiefalten musste die israelitische Gemeindepflege Stuttgart bezahlen. Seit Mitte der 1930er-Jahre waren jüdische Patienten und Patientinnen von der öffentlichen Wohlfahrtspflege ausgeschlossen.

Ein ehemaliger Assistenzarzt von Zwiefalten beschreibt die katastrophalen Zustände zu Beginn des Jahre 1940 mit folgenden Worten: »Hunderte von Patienten warteten in notdürftigen Unterkünften (auf blankem Stroh).»

Der Leidensweg vieler Patienten endete vor dem Weitertransport.

Es gibt fast keine Belege für die Zeit, in der Florina in Zwiefalten war. Ihre Krankenakten wurden dem Transport nach Grafeneck mitgegeben und an die «Zentrale Tötungsorganisation Berlin» weitergeleitet.

In den sogenannten «Nachakten» in Zwiefalten befindet sich eine Liste, in der allmonatlich vom Tag ihrer Aufnahme bis zu ihrer Verlegung ihr Körpergewicht vermerkt wurde, das Kleiderverzeichnis, in dem ihre persönlichen Gegenstände bei der Aufnahme registriert wurden, ihre Kennkarte für Juden und der bereits erwähnte Brief ihres Neffen Jakob, der hier ungekürzt zu lesen ist:

Im Frühjahr 2010 nahm die Stolperstein-Initiative Ludwigsburg ein Päckchen aus England in Empfang; der Absender war Harry Grenville, Jakob Greilsamers Sohn. Es enthielt ein Buch, das einst Florina Ottenheimer gehört hatte:

«Jerusalem» steht auf dem Buchdeckel, der aus Nussbaumholz angefertigt wurde. Beim Aufschlagen entdeckt man den Inhalt: «Blumen des Heiligen Landes». Kunstvoll gepresste Pflanzen sind eingeklebt und nach über hundert Jahren noch unversehrt.

Die Widmung lautet: Der Erzneschumme Flora Bloch. «Neschumme» ist das jiddische Wort für Seele. Mit der verstärkenden Silbe «Erz…» davor – könnte dies nicht ein Hinweis auf einen sehr empfindsamen Menschen sein, der Florina war?

Gudrun Karstedt, Anita Wesner
Quellen:
Joachim Hahn, Jüdisches Leben in Ludwigsburg; Karlsruhe 1998
Hermann J. Pretsch (Hrsg.): Euthanasie – Krankenmorde in Südwestdeutschland Zwiefalten 1996
Susanne Rueß, Stuttgarter jüdische Ärzte während des Nationalsozialismus; Würzburg 2009
Archiv Zwiefalten
Stadtarchiv Ludwigsburg
Staatsarchiv Ludwigsburg
Staatsarchiv Sigmaringen
Harry Grenville

Fotos oben: Stolperstein-Stadtführung 2009 vor dem Haus „Bei der katholischen Kirche 2“;
Portrait von Florian Ottenheimer; Original aus dem Bestand des Stadtarchivs Ludwigsburg